SPREEWELLE 171

WIESO

VÖ: 06.08.2020

Sind 60 Tage der neue Monat? Könnte man auf die Idee kommen bei dem schludrigen Veröffentlichungsrhythmus der Spreewelle in 2020. Säufzen wir einfach mal ein beherztes „Wegencorona“ als Ausrede und lauschen einstweilen dem Soundtrack des Spätsommers.

Teaser

Oh wie schön ist… Japan?

Alex Mayr feierte mit „Deine Schuhe“ im Mai Premiere auf der Spreewelle. Vier Jahre lang spielte sie im Vorprogramm von Künstlern von nationalen Kollegen wie Faber, Get Well Soon oder Sophie Hunger. Jetzt endlich in 2020 ist ihr echtes, erstes Debut-Album draußen. Das heißt „Wann fangen wir an“ und die Antwort muss lauten „Jetzt“, denn es befinden sich ganz hervorragende Songs darauf.

Einer davon schafft es sogar zum Opener der Sommerwelle. „Japan“ hat unverkennbare Anleihen von den coolen Zeiten des Lenny Kravitz (die Strings von „It Ain’t Over ‚Til It’s Over“) und zitiert im C-Teil frech die Drums von Paul Simons „Fifty Ways to leave your lover“. Insgesamt ein gewaltiger Hit – einziger Kritikpunkt vielleicht der Songtitel. Da hätte man durchaus was griffigeres, was identifizierendes finden können als den „Sehnsuchtsort“ Japan. Aber, is ja Indie…

Der deutsche Sommer

Es folgen im Multipack herausragende Lieder aus dem Heimatland. Die immer wieder gern gesehene Mine z.B. aber vor allem das sympathische Musikprojekt von Sven Regener, das sich Crucchi Gang nennt. So ganz neu ist die Idee nicht: Bekannte und beliebte Gassenhauer mit einem eingängigen, länderspezifischen Sound zu versehen. Das haben die alten Herren von Buena Social Club mit dem Rhythms del Mundo Projekt auch schon gemacht. Nur ging es da um das lateinamerikanische Covern von internationalen Welthits. Bei dem alten Herren Regener sind es deutsche Indiesongs, die in entspannte italienische Calzone gepresst werden. Hier zu hören: Von Wegen Liesbeths „In Meiner Kneipe“ und Bilderbuchs „Bungalow“. Eine sehr gute Alternative zum verwehrten Auslandsurlaub.

Angst trifft Optimismus

Wir bleiben bei hitzigem, schnellen Indiepop. Allerdings wechseln wir sowohl Land als auch Kontinent. Alex Riebl klingt vom Namen her nach Wuppertal, kommt aber aus Down Under und ist hauptberuflich Bandleader von The Cat Empire. Vor ein paar Tagen teilte er „Black Room“, ein ungewohnt wuchtiger Song, der sofort in die notwendigen Körperteile fährt. „With Black Room I wanted to write a song that hit people with a blast of something that was equal parts angst and positivity“, wird Riebl im Pressetext zitiert. Das trifft es ganz gut.

Slut

Zurück in Deutschland: Slut sind zurück. Die Band aus Bayern, die sich vor rund 26 gegründet hat, will es noch mal wissen und präsentiert sich auf dem sehr zurückgefahrenen „For Hope There Is No Hospital“ so melancholisch wie noch nie. Das mögen langjährige Weggefährten scheisse finden, für Fans von The Notwist aber tut sich da ein echter Lieblingshit auf. Gut geeignet für den einen Regentag innerhalb der nächsten zwei Wochen.

Talking about Comebacks: Auch Spector sind zurück. Die Briten steuern zum Sommersoundtrack ein im Vergleich deutlich flockigeres Stück bei. „When Did We Get So Normal“ macht alles richtig. Eingängig bis kurz vor der Toleranzgrenze und textlich fein abgestimmt auf die große Frage der mittlerweile ergrauten Fangemeinde.

Honne-stly

Als der Fan-Newsletter reinkam und den Mund wässrig machen sollte auf das neue Album (, das aus unerfindlichen Gründen „Mixtape“ genannt wird), war ich skeptisch. Honne hatten mich von der ersten Minute mit „Warm On A Cold Night“ gehabt und bestätigten meine Zuneigung bei 2 (!) Konzertterminen. Dann aber kam der Erfolg und beim ersten Durchgang ihres zweiten Albums ließ sich das schlimme „Die-alten-Sache-fand-ich-ja-ganz-gut-die-neuen-nicht“ kaum noch vermeiden. Dann also der Newsletter. Und da war es wieder. Die alte Liebe neu entflammt. „No Song without you“ kommt ganz im Gegensatz zu der jüngsten Band-Entwicklung auf dreifach gedimmten leisen Pfoten daher. Die ersten Akkorde, die brutale Romantik der Harmonien, der zuckersüße Text. Dass das alles nicht langweilig harmlos wird, ist dem Arrangement und dem Sound zu verdanken, der unweigerlich an die Beach Boys erinnert. Gleich beide Vorabsingles gibt es auf der 171.

Wettentspannen

Auch die Schweden von Mando Diao überraschen derzeit. Als Übersprungshandlung für nicht stattfindende Konzerte und Festivals haben die 2005er Helden in den letzten Wochen zwei EPs veröffentlicht. Nachdem die letzten beiden Alben schwedisch gesungen wurde, versuchen sie es jetzt wieder auf englisch. Soundtechnisch haben sich Mando Diao aber schon länger von den wilderen und aufgeregteren Anfangstagen entfernt. Das macht aber gar nichts – „All The People“ passt in die Entspanntheit, die gerade zu Beginn der zweiten Hälfte den Ton angibt.

Ebenfalls in Rückenlage gehen es Neuzugang Jousef und die Schrammel-Lieblinge von Tennis und The Radio Dept. an. Hier geht es weniger um die Hook als ums Feeling. So eine allgemeindösige Zufriedenheit ist in diesen Zeiten Tagen vielleicht gar nicht die verkehrteste Wahl.

(Ver-)Spannungsbogen

Aber so ganz ohne Drama lassen wir die Hörer der 171. Spreewelle auch im Corona-August nicht gehen. Wär hätte gedacht, dass nach dieser Einleitung ein solches Pop-Sternchen wie Taylor Swift als Künstlername gefettet wird? Ich nicht. Und viele andere auch. Wie so oft in diesen Tagen (s.o.) lebt das Musik-Business gerade von Überraschungsmomenten – wahrscheinlich um irgendwie die leeren Bühnen zu kompensieren. Wenn man ganz viel Glück hat, kommt dann so ein Album wie „Folklore“ raus. Das klingt Nullkommanull nach dem Signature Sound der Dreißigjährigen, die sonst ganz gerne Ernsthaftigkeit off-shaket. „Folklore“ klingt gänzlich anders als das Disney-gefärbte Œuvre von Mrs Swift. Kein Wunder: An elf der (leider zu vielen, weil 16) Songs hat Aaran Dessner von The National mitgewirkt. Und es gibt sogar ein Bon Iver-Feature. Eben dieses sitzt kontextverachtend im letzten Drittel der Seite 1 („Exile“). Das noch größere „Illicit Affairs“ markiert den stimmungsmäßigen Wendepunkt in der zweiten Hälfte. Hier ein wirklich tolles Indie-Duett, da ein eher winterlicher Sommergruß mit – sagen wir – schönen Text. Taylor: Ich mag Dich.

Seite 2 hält dann als letzten Höhepunkt noch zwei echte Juwelen bereit. James Blakes Potential ist unbestritten, auch wenn mir die abgöttische Verehrung der gesamten Musikjournalie bei seinem Soundgefriemel nicht einleuchten will. Am besten ist der Brite immer dann, wenn er auf Hilfsmittelchen verzichtet. Das darf man ja wohl noch sagen. Seine unverwechselbare Stimme und sein Gespür für machtvolle Arrangements reichen völlig aus. Auf „Are you even real“ klingt Blake verglichen mit seinen jüngeren Werken genau so: Minimalistisch. Zudem geht es um Lucid Dreams. Grund genug für das späte Ausrufungszeichen. Das nur noch einmal ergänzt wird durch Nina Chuba – eine deutsche 21-Jährige Schauspielerin, die – wenn man es böse ausdrücken möchte – „eine auf Billie Eilish macht“. Wenn man es richtig ausdrücken möchte. ist „I Can’t Sleep“ ein ziemlich großartiger Song. Der dann auch das Ende des ernster gemeinten Teils dieser Spreewelle markiert.

Die Playlist bei Spotify

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